Wie das Gehirn unsere Wahrnehmung prägt: Designprinzipien aus der Neurowissenschaft
Relevante Gestaltgesetze für Lernmedien
Menschen sind Augenwesen, die etwa 80 Prozent der Informationen über Ihre Umwelt durch das Sehen aufnehmen.1 Wir sehen aber nicht die Realität, also das, was ist, sondern das, was unser Gehirn wahrnimmt. Unsere Sinnesorgane leiten lediglich Bruchteile dessen weiter, was die Umwelt an Informationen zu bieten hat. Nur wenige Eindrücke werden schließlich ins Bewusstsein vorgelassen.
Obwohl das Gehirn eines Erwachsenen nur etwa 2 Prozent der Körpermasse ausmacht, ist es der größte Energiefresser mit etwa einem Fünftel des gesamten Energieumsatzes.2 Da der menschliche Organismus auf Energiesparsamkeit getrimmt ist, arbeitet das Gehirn sehr effizient. Unsere grauen Zellen sortieren Informationen, misten sie aus und vereinfachen sie. Dem Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Braun zufolge „vollbringe (das Gehirn) die Meisterleistung, aus möglichst stark reduzierten Daten, möglichst viel lebenswichtige Informationen herauszulesen.“3 Es fügt Dinge hinzu, die gar nicht vorhanden sind und lässt Dinge weg, wenn dadurch einfachere Gestaltformen erzielt werden. Getreu dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Aus dieser Arbeitsweise lassen sich Grundprinzipien der Gestaltung ableiten.
Gestaltgesetze
Die Gestaltgesetze sind Bestandteil der Gestaltpsychologie, die sich in den 1920 Jahren zu einer eigenständigen Theorie entwickelte. Sie formulieren die Fähigkeit des Menschen, in komplexen Szenarien abstrakte Muster, Wiederholungen, Ähnlichkeiten und Zusammenhänge herzustellen. Sie wirken nicht unabhängig, sondern stehen in Wechselwirkung zueinander. Gestaltgesetze sind eine Verallgemeinerung der Prinzipien visueller Wahrnehmung. Sie versuchen zu erklären, weshalb Menschen Szenarien und Bilder immer gleich interpretieren und weshalb die unendlich vielen anderen Interpretationsvarianten unlogisch erscheinen.
Durch die bewusste Anwendung von Gestaltgesetzen können Informationen so aufbereitet werden, dass der Betrachter diese (im Idealfall) vollständig, Fehler- und ermüdungsfrei aufnehmen und verarbeiten kann. Erfahrene Designer sind geübt, Gestaltgesetze gezielt einzusetzen, damit Produkte und Benutzeroberflächen intuitiv verständlich und bedienbar sind.
Es gibt eine Fülle von Gestaltgesetzen, die sich je nach Definition teils überschneiden oder nicht klar voneinander zu trennen sind. Die folgenden Gesetze sind eine für UX-Design und Lernmedien relevante Auswahl.

Gesetz der Einfachheit
Wahrscheinlich werden Sie die Abbildung als zwei Quadrate interpretieren, von denen eine um 45° gedreht ist. Dass Sie spontan acht im Kreis angeordnete Dreiecke sehen, die einander berühren, ist hingegen unwahrscheinlich, weil diese Kombination zu komplex ist.

Gesetz der Nähe
Das Gesetz der Nähe lautet, dass näher beieinander liegende Elemente als zusammengehörig wahrgenommen werden. Weit voneinander entfernte Elemente werden als separat und unabhängig wahrgenommen. Das Gesetz der Nähe ist eines der stärksten Gesetze der Wahrnehmung. Es wirkt stärker als formale und farbliche Gemeinsamkeiten.

Gesetz der Ähnlichkeit
Elemente, die einander ähnlich sind, werden als Gruppe erkannt, beispielsweise Objekte gleicher Größe oder Form. Am stärksten funktioniert das Gesetz bei gleicher Form, wie die rechte Abbildung zeigt. Das Gesetz der Ähnlichkeit ist nicht dafür zuständig, Gruppierungen zu bilden, es eignet sich vielmehr, um Konsistenzen herzustellen. Konsistenzen ergeben sich durch gleiche Farben, Größen, Orientierung und Form.

Gesetz der Prägnanz
Das Gesetz wird auch als Gesetz der guten Gestalt bezeichnet und besagt, dass unser Gehirn wahrgenommene Objekte anhand prägnanter Merkmale in möglichst einfache Grundformen zerlegt. Das Beispiel kann ohne eine Strukturzerlegung kaum beschrieben werden, sofern es in seiner Form keinem uns bekannten Objekt entspricht. Dank der erwähnten Zerlegung sehen wir hier einen Kreis und ein Dreieck, dass durch diesen Kreis hindurchgeht. Wir erkennen also zwei eindeutige Formen, die es uns ermöglichen, das gezeigte Objekt zu erfassen und zu beschreiben.

Gesetz der Geschlossenheit
Aus unserer Neigung, Zusammenhänge herzustellen, sehen wir Figuren, die gar nicht existieren. Die Abbildung belegt dies eindrucksvoll. Was sehen Sie? Ein Quadrat, eine Raute und vier Kreisflächen? Tatsächlich sind hier vier Winkel und vier Dreiviertel-Kreissegmente abgebildet. Das Gehirn vervollständigt unfertige Objekte in der Wahrnehmung.

Gesetz der Kontinuität
Linien werden immer so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg. Abbiegungen hält das Gehirn für unwahrscheinlich. Das Gesetz der Kontinuität gilt auch für komplexere Formen. So interpretiert das Gehirn Elemente ähnlicher Art und in nicht allzu großer Distanz einer bestimmten Richtung folgend als Linie.

Gesetz der Symmetrie
Elemente, die symmetrisch angeordnet sind, werden als Einheit wahrgenommen Im Gegenzug treten Elemente, die ohne Struktur zueinander im Raum vorhanden sind, eher in den Hintergrund. Grund dafür ist, dass das Gehirn versucht, stets Formen zu erkennen. Die Symmetrie um die senkrechte Achse wirkt stärker als jede andere Spiegelung.

Gesetz des gemeinsamen Schicksals
Elemente, die sich mit ähnlicher Geschwindigkeit in eine ähnliche Richtung bewegen, werden als zusammengehörende Einheit wahrnehmen.
Zusammenfassung
Unsere visuelle Wahrnehmung ist stark von der Interpretation unseres Gehirns geprägt, das nur einen Bruchteil der verfügbaren Informationen verarbeitet und dabei Effizienz durch Vereinfachung und Hinzufügen und Entfernen von Details erreicht. Aus dieser Arbeitsweise leiten sich Gestaltgesetze ab, die eine intuitive Wahrnehmung von Informationen und ihre Verarbeitung ermöglichen. Designer gestalten Produkte und Benutzeroberflächen unter bewusster Anwendung dieser Gesetze, sodass sie fehlerfrei und ermüdungsfrei wahrgenommen und bedient werden können.
Quellen
1 Wäger, Markus; Galileo Press, Bonn, 2014, Grafik und Gestaltung
2 www.dasgehirn.info
3 Braun, Rüdiger; Kösel-Verlag, München 2019, Unsere 7 Sinne
Weiterführende Informationen:
Heimann, Monika; Schütz, Michael; Rheinwerk Verlag, Bonn 2017, Wie Design wirkt
www.designpilot.info
www.verdino.com